Ein wesentlicher Aspekt altägyptischer Kultur sind die Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter, die sich in einer einzigartigen Fülle von visuellen Darstellungen und Inschriften auf Trägern wie Grabwänden, Papyri oder Sargtexten heutzutage noch vorfinden. Die ganze Literaturgattung dieser Werke sind die sogenannten Unterweltsbücher. Ihr Ziel ist es, die Sonne auf ihrer nächtlichen Fahrt durch das Jenseits zu begleiten; insbesondere in den beiden bedeutenden Unterweltsbüchern Amduat und Pfortenbuch, wird dieses gigantische und für den Weltenlauf unabdingbare Szenario detailgenau von den Ägyptern beschrieben in Wort und Bild. Der Laie heute, kann diese zum Teil abstrusen Darstellungen garnicht oder wenig deuten. Mit vorliegendem Buch "Die Nachtfahrt der Sonne" wird Abhilfe geschaffen.
Der renommierte Professor für Ägyptologe Erik Hornung, (emeritiert), hat sich intensiv mit dem Amduat wo die 12-stündige Nachtfahrt des Sonnengottes erstmalig ausführlich beschrieben wird auseinandergesetzt. Und er hat dieses altägyptische theologische Werk einem breiten Publikum über die Fachwelt hinaus, erklärend zugänglich gemacht. Eine sehr ausführliche Interpretation des Amduats ist in "Die Nachtfahrt der Sonne" nachzulesen. Gleichfalls als Leitfaden für diesen beschriebenen Trip durch die Unterwelt diente dem Autor das sogenannte Pfortenbuch, welches gut 100 Jahre später entstand, als das um 1500 v.Chr. geschaffene Amduat, und ähnlich aufgebaut ist. Beide Unterweltsbücher sind in die zwölf Stunden der Nacht eingeteilt und jede Stunde entspricht einer Abteilung in der ein zentrales Thema im Zentrum steht. So beispielsweise vereint sich Re in der sechsten Stunde des Amduat mit Osiris.
Fast einem Bilderrätsel gleich, so wirken auf den Betrachter die bildhaften und hieroglyphischen Inhalte von Amduat und Pfortenbuch, welches Erik Hornung zu lösen vermocht hat. Jedenfalls entläßt der Autor den Leser keinesfalls mit leerem Sinn, sondern versteht es, die Visionen der alten Ägypter von deren Jenseits, treffend zu erklären. So dass es im Nachhinein einem selbst überlassen wird, welche Eindrücke all' diese Bilder auf den Betrachter ausüben.
Die Reise auf die Erik Hornung den Leser mitnimmt führt nicht nur an die tiefste Stelle der ägyptischen Unterwelt, sondern gleichsam auch in die Welt des Unbewußten. Die Tiefe in die der Leser absteigt wird in diesen beiden Unterweltsbüchern Amduat und Pfortenbuch auch als Erdtiefe verstanden; desweiteren läßt sich bei den Ägyptern aber auch eine Wassertiefe und Himmelstiefe in diesem jenseitigen Zusammenhang ausmachen. Das Interessante dabei ist, dass die Ägypter diese Tiefen als einen "Weltinnenraum" verstanden haben, "der überall in jeder Richtung anzutreffen ist, auch als die Tiefe des Unbewußten in uns selbst" (Hornung) das Jenseits, das auch in uns liegt.
Die Reise der Sonne durch die zwölf Stunden der Nacht, nachdem diese im Westen untergeht, führt sie zunächst in ein Zwischenreich. Von da an begibt sich die Sonne, in widderköpfiger Gestalt als Ba-Seele auf den weiten und gefährlichen Weg durch die Unterwelt, um am Ende ihrer Reise verjüngt und in neuer Gestalt auf Erden zu erscheinen. Um dies zu erreichen muss sie sich in einer ganz bestimmten Stunde mit dem Gebieter des Jenseits, nämlich Osiris, der auch ihr eigener Leichnam ist, vereinen. Durch jede Stunde gleitet die Sonne auf ihrer Barke dahin, mit wachsamem Begleitschutz um den Gefahren, allen voran die Schlange Aphophis, zu entgehen. Aber auch alle selig Verstorben inklusive der Pharao, begleiten sie Sonne auf ihrer Reise um sich mit ihr in den Tiefen der Erde zu erneuern.
Um dieses für die Ägypter immens wichtige Ereignis geht es in dem Buch, was gleichfalls eine altägyptische Beschreibung des Jenseits ist. Erik Hornung gliedert diese Fahrt durch die Unterwelt in mehrere Kapitel, bzw. in die jeweiligen Stunden; wie im Amduat und Pfortenbuch. Allerdings sind dreimal zwei Stunden in je ein Kapitel zusammengepackt. Mit dem "Sterben" der Sonne beginnt die Reise und mit der "(Wieder)Geburt" endet sie. Dazwischen spannende Stunden: bizzare Wesen, eine Welt voll Gefahren, Wüstengebiete, Flüsse und Seen, Schlangen, Götter und Dämonen. Sowie stets das Gefühl mit dabei zu sein in einer verzerrten Welt, die das Reich der Toten darstellt.
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Jedem geneigten Leser sei dies Werk von Hornung sehr empfohlen, um einen in die Tiefe gehenden, und trotz aller Komplexität des Themas an sich, gut verständlichen Inhalt zu ergründen. Klar im Vorteil sind Leser mit ägyptologischen (Vor-)Kenntnissen und im Grunde ist das Buch erst dann wirklich dienlich, wenn man sich mit altägyptischen Glaubensvorstellungen schon befaßt hat.
Ein kleines Manko hat das Werk in Punkto Verhältnis der Bildauswahl zu den Textinhalten, denn bei weitem werden nicht alle illustrativen Darstellungen aus den beiden Unterweltsbüchern auf den Buchseiten abgedruckt. Es werden lediglich oft kleinere schwarzweiße Bildausschnitte aus den einzelnen Stunden des Amduats sowie aus dem Pfortenbuch, eingestreut. Und somit ist der Leser stark auf sein eigenes Vorstellungsvermögen angewiesen. Um diesem "Problem" bezüglich Amduat vielleicht zu entgehen, gibt es seit der Ausstellung "In Pharaos Grab", in Basel 2007, ein Begleitbuch in dem die kompletten 12 Amduat-Stunden farbig abgedruckt sind.
Erwähnenswert sei noch, dass im letzten Kapitel des Buches weitere Unterweltsbücher kurz vorgestellt werden sowie das himmlische Jenseits in der älteren Zeit. Ein kleines Glossar und Literaturtipps schließen das Buch ab.
Entgegen dem schlichten Buchumschlag-Design das in ein dunkles Nachtblau getaucht ist, erwarten den Leser mit Hornungs Interpretationen des altägyptischen Jenseits' eine wahre Fülle und Reichtum an zusammengetragenen Informationen zu altägyptischen Glaubensvorstellungen. Gut strukturiert aufbereitet und handliches Buchformat lassen den Leser eintauchen in eine andersartige Welt, in eine Welt voller Bilder, die einerseits klare Figuren und Umrisse zeigen, die aber für unser heutiges Denken schwer zu verstehen sind, solange man quasi nicht selbst eingeweiht ist oder sich wissenschaftlich damit befaßt hat. Das Buch verschafft jedenfalls einen guten Zugang zu dieser (vergangenen?) jenseitigen Welt.
(© Mein-Altaegypten.de, im Oktober 2007, Anja Semling)
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