Historische Geschehnisse aus dem Alten Ägypten sowie gesellschaftliche und soziale Phänomene von damals werden vom Autoren gründlich in seiner Geschichte verarbeitet, und zwar aus einer der meist beschriebenen Zeit des alten Ägypten, dem sogenannten Neuen Reich. Der Kenntnisstand von vor etwa 60 Jahren über die Historie Ägyptens weicht allerdings von dem der heutigen Forschungsergebnisse und Thesen ab, was sich auch im Roman bemerkbar macht, insbesondere im historischen Kontext der sogenannten Amarnazeit. Die geschichtliche Rahmenkulisse des Romans ist authentisch wiedergegeben sowie einige wesentliche Personen, die darin vorkommen tatsächlich gelebt haben; hierbei dreht es sich meist um geschichtsträchtige Persönlichkeiten. Die Hauptfigur des Romans, Sinuhe, ist frei erfunden, genauso wie weitere einfache Personen, die im Umfeld Sinuhes eine Rolle spielen.
Dieser tiefgründige Roman spielt vor rund 3300 Jahren und ist gegliedert in zwei Bände in einem einzigen Buch zu 15 Kapiteln. Im ersten Band geht es um Auslandserfahrungen im Mittelmeeraum des Protagonisten Sinuhe, wobei dieser die Sitten und Eigenarten, Lebensgewohnheiten sowie Glaubensvorstellungen von fremdländischen Völkern kennenlernt; eine detaillierte Schilderung von Land und Leuten. Im zweiten Band des Romans wird der Leser an den Schauplatz jener Zeit versetzt, in der Ägypten von Unruhen im Land heimgesucht war als Pharao Echnaton seinen Atonkult ausübte und dem Volk den Glauben an die alten Götter verbot.
Im Mittelpunkt steht die fiktive Figur namens Sinuhe, ein Arzt, der es sich zur Aufgabe gemacht hat allen Menschen, ganz gleich ob arm oder reich zu helfen ohne sich damit ernsthaft finanziell bereichern zu wollen. Ihm lag das Mitmenschliche mehr am Herzen, als materieller Reichtum.
Der Autor erzählt aus der Sicht Sinuhes dessen Lebensgeschichte. Einsam und alt sitzt Sinuhe an seinem Schreibpult, weit weg von seiner Heimat und schreibt seine vergangenen Erlebnisse nieder, beginnend vom Auffinden seiner Selbst als Säugling, bis hin zu seiner Verbannung.
Am Ende der Herrschaft von Pharao Amenophis III., um 1350 v.Chr., kommt Sinuhe als Säugling auf einem Binsenboot den Nil herabgeschwommen. Gefunden wird er von dem kinderlosen Ehepaar Senmut, ein Armenarzt und seiner Frau Kipa. Bei ihnen wächst er auf und erlernt wie sein Pflegevater den Beruf des Arztes, in der Tempelschule von Theben. Dort wird er auch zum niederen Priester geweiht und wird früh des Glaubens an Amun abtrünnig, denn er erkennt die Machenschaften der Amunpriester. Alsbald beginnt der gewissenhafte und kluge Sinuhe mit seiner beruflichen Arbeit und erlernt auch die hohe Kunst des Schädelöffnens. Dieser außergewöhnlichen ärztlichen Tätigkeit darf er in Begleitung seines Lehrers am königlichen Hofe assistieren, an keinem geringeren als dem todgeweihten Pharao, der diesen Eingriff nicht überlebt. Der Thronnachfolger Echnaton, den Sinuhe für verrückt hält, läßt ihn an seinen göttlichen Wahrnehmungen teilhaben, noch bevor er zum König über Ägypten gekrönt wird.
Sinuhes Lebenswandel zwischen Heilen und Gelüsten führt ihn auch zur schönen Ausländerin namens Nefernefernefer, der er verfällt. Ihretwegen verkauft er sein gesamtes Hab und Gut, sogar das Haus und Grab seiner Eltern. Seiner Ehre als Arzt beraubt, völlig mittellos und nur noch seinem treuen Diener Kaptah verbunden, flieht er mit diesem nach Syrien, weit weg von Theben. Schon bald arbeitet er wieder als Arzt und baut sich eine neue Existenz auf, doch lange hält es ihn nicht vor Ort. Seine nächste Reise führt ihn nach Babylonien wo er die junge griechische Stier-Tänzerin Minea kennenlernt, in die er sich verliebt. Minea ist aber dem Gott von Kreta geweiht, und gemeinsam mit Kaptah fliehen Sinuhe und Minea zunächst in das Land der Hethiter um nach Kreta zu gelangen. Dort wird Sinuhe Zeuge eines grausamen Rituals, das ihn an den Rand der Verzweiflung treibt. Sinuhe, der sich in seinem Herzen durch und durch als Ägypter fühlt und seine Suche nach Kenntnissen in fremden Ländern beenden will, kehrt wieder zurück in seine Heimat, nach Theben.
Zuhause angekommen kauft er sich ein Haus und gründet seine Arztpraxis. Mittlerweile hat sich unter der Herrschaft Echnatons im Land vieles gewandelt, was zuvor traditionell seit hunderten von Jahren vom mächtigen Priesterklerus und dem gemeinen Volk anerkannt war, der praktizierte Glaube an den altehrwürdigen Reichsgott Amun, war bedroht. Der Pharao läßt nur noch den Gott Aton als einzigen wahren Gott gelten. Selbst Sinuhe, der die Götter nicht fürchtet sympathisiert mit Aton. Es kommt zu Unruhen und einem Volksaufstand. Das alte Theben wird von Echnaton samt Königshof aufgegeben um seine neue Stadt, Achetaton, in Mittelägypten zu erschaffen. Nach weiteren Unruhen und Verfolgung der Amun-Priester verläßt auch Sinuhe Theben um dem König zu folgen, wo er zehn Jahre weilt.
Inzwischen formiert sich im Norden des Landes eine ernsthafte Bedrohung für Ägypten: die gefürchteten Hethiter. Der fähige General Haremhab erkennt die Gefahr längst und kämpft um das Land Ägypten, wo gleichzeitig ein Kampf der Götter stattfindet, auch gegen die Fremdländer.
Sinuhes Leben wird derweil zum Debakel, denn nach weiteren Unruhen in Theben, wird für ihn nichts mehr so sein wie es einst war ... Noch einige Male muss er mit seinen heilkundlichen Fähigkeiten das Schicksal Ägyptens mitbestimmen. Bis er schließlich nach all' seinen Hochs und Tiefs, nach etlichen Unglücken und boshaften Aufträgen, in der Außenwelt noch immer nur das Gute in jedem Menschen heraufbeschwören möchte, was ihm aber durch den neuen Machthaber Haremhab verwehrt wird. So gelangt er schließlich in die Verbannung und beginnt seine 15 Bücher zu schreiben.
Wie schon erwähnt ist die historische Kulisse sehr genau wiedergegeben, unter Berücksichtigung der Lehrmeinungen von vor Jahrzehnten, insofern ließt sich die ganze Thematik noch plastischer. Zu beachten für den Leser gilt aber auch hier, dass gerade die verwandschaftlichen Beziehungen der Königsfamilie am Ende der 18. Dynastie, als wenig gesichert gelten in der modernen Ägyptologie.
Die vermeintlichen Ereignisse rund um die Amarnazeit, geben der Figur Sinuhe noch mehr Kontur, da er in Morde verstrickt wird, in zwischenmenschlichen Tragödien erst zu sich selbst findet und auch gegen seine oft hitzige Natur zur Nachdenklichkeit aufgerufen ist. Sinuhe macht sich immer viele Gedanken und hadert mit sich selbst in allen möglichen Lebensbereichen wo es um Liebe, Glaube, Macht oder einfach ums Menschsein geht. Kriege verachtet Sinuhe insgeheim, versteht aber genauso gut warum sie zum Überleben eines Volkes gehören. Sinuhe glaubt auch, dass sein Schicksal, am Tage der Geburt in den Sternen bereits vorgegeben war. In seiner Einsamkeit und mit Ausübung seiner Heilkunst, fürchtet er die Götter zwar nicht, hat aber auch keine Erklärung dafür warum er letztlich soviele Menschen ins Unglück gestürzt hat. Der tragische Held dieser Geschichte, läßt den Leser tief in seine Gedankenwelt blicken. Seine gedanklichen Monologe verhelfen dem Leser zur differenzierten Charakterisierung von Sinuhe.
Denn wenn auch Sinuhes Leben und Wirken in einer längst vergangenen Lebenswelt spielen, so sind pyschologische Bezüge über das Verhältnis zu Gut und Böse, Armut und Reichtum, einfacher Glaube oder religiöser Eifer, etc., mit den unsrigen heutzutage vergleichbar.
Die Geschichte des Sinuhe ist angereichert mit detaillierten Beschreibungen zu: kriegerischen Handlungen, kultischen Ritualen, heilkundlichen Praktiken, gesellschaftlichen Zuständen oder fremdländischen Völkern. Dies macht das Ganze auch zu einer Art Geschichtsbuch mit dem Aspekt des Sachlichen. Zur Gesellschaftsstudie wird das Buch insofern, weil die sozialen Unterschiede teils fein herausgearbeitet sind, die damals in einer hierarchisch (ägyptisch) gegliederten Gesellschaftsordnung vorzufinden waren. Sehr schön sind auch Unterschiede zwischen Ägypten und seinen Nachbarländern eingearbeitet, wie z.B. religiöse Gebräuche, Nahrung, Kleidung oder Aussehen der Leute.
Mitunter legt der Roman stellenweise enorm an Spannung zu, zum Beispiel am Ende des zweiten Bandes, wo es um die hinterlistige Ermordung eines Prinzen geht. Stellenweise aber auch etwas langatmige Ausführungen, insbesondere bei Feldzügen, die zuhauf im Buch vorkommen.
Der Roman zeichnet sich durch seine Vielfalt an altägyptischen Themenbereichen aus, doch auch durch die tiefgründige Gedankenwelt des Hauptakteurs Sinuhe. Mittels einer lebendigen Erzählweise schafft es der Autor historische Tatsachen verknüpft mit erfundenen Charakteren und historischen Personen deren Charaktere und vielerlei Handlungen im Roman allerdings ebenso erfunden sind aus einer uns heute wenig vertrauten Welt, ein großflächiges und subtiles Bild zu zeichnen, das einen in die Vergangenheit geistig abtauchen läßt.
Der Sprachstil von »Sinuhe der Ägypter« ist flüssig aber recht speziell und die Wortwahl ist oft eigentümlich bezogen auf unsere Tage. Beispiele: "Gesichte", "Fliegengesumm", "Neger" (anstatt Nubier), "Krug zerschlagen" (=heiraten). Trotzdem wirkt der Stil insgesamt sehr passend für die ganze Geschichte unter dem Aspekt der frühen Erscheinung dieses Romans.
Fazit: facettenreich, tiefsinnig, emotional, realitätsbezogen, sozialkritisch, abenteuerlich. Der Leser nimmt Anteil am Schicksal von Sinuhe, er leidet mit ihm, freut sich mit ihm, erfährt seine Gedanken und Gefühle, begleitet ihn auf allen seinen verzweigten Wegen.
(© Mein-Altaegypten.de, im September 2008, Anja Semling)
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