3200 Jahre reist der Leser gedanklich zurück in die altägyptische 19. Dynastie, während der Epoche des Neuen Reiches. Eine glanzvolle Zeit in der das "Zweifache Land", Ägypten, im hellen Schein der "Ewigen" und dessen mächtigen Herrscher erblühte. Doch blieb das Land nicht von politischen Wirren und Chaos verschont, was mitunter offenbar auch maßgeblich für diesen Roman war. Aufgrund meiner eigenen Recherche, war der Auslöser für die Autorin, Judith Mathes, überhaupt diesen Roman zu schreiben, ihr Rundfunk-Vortrag zur Person des Vorarbeiters Paneb, den es tatsächlich gab und dessen Schicksal im so genannten Papyrus Henry Salt 124 dokumentiert ist.
Eingeteilt in zwei ganz große Kapitel, "Erstes Buch" und "Zweites Buch", die wiederum gegliedert sind und denen beiden eine Einleitung vorausgeht, schließt das Buch ab mit einem Nachwort der Autorin sowie einem Anhang; kein gewöhnlicher Anhang sondern eine Reihe prägnanter Daten und Namen und ein ausführliches Personenverzeichnis aller der im Roman agierenden Personen, ob fiktiv oder historisch belegt. Desweiteren ein umfangreiches Glossar und etliche Lagepläne zu Örtlichkeiten, die im Roman eine Rolle spielen.
Da in dieser faszinierenden Geschichte stets die Schauplätze wechseln und mehrere wesentliche Handlungsabläufe parallel spielen, ergibt sich für den Leser trotzdem ein in sich geschlossenes Ganzes. Es macht keine große Mühe dem zu folgen; allerdings haben kundige Leser zur Thematik Altes Ägypten, womöglich einen Vorsprung gerade in Bezug auf den historischen Hintergrund und somit dem Nachvollziehen im Gesamten. Da es sich ja um eine sehr umfangreiche Geschichte handelt, sei im Folgenden lediglich eine Kurzfassung wiedergegeben, die das Wesentliche aufzeigt. Anzumerken sei aber sogleich, dass sich der Roman in überaus zahlreichen weiteren wichtigen Detailhandlungen, Gesprächen und historischen Ereignissen bewegt:
Nachdem die Söhne des Königsschreibers namens Bai, das Licht der Welt erblickt hatten, trennt sich jener unmittelbar von den beiden. Denn die Kinder würden seinem ehrgeizigen Aufstreben am königlichen Hofe nur im Wege stehen. So entzieht sich Bai seinen Söhnen und gibt sie weg.
Mit diesem Ereignis beginnt die Geschichte nicht irgendwo im Alten Ägypten, wo das Volk einen bedingungslosen Glauben an die Götter praktizierte. Fortan begleitet der Leser unterschiedliche Persönlichkeiten, die im Roman eine mehr oder minder tragende Rolle spielen.
Die Jahre vergehen und die Söhne Bais, namentlich Djehuti und Irinefer, wachsen unter glücklichen Umständen auf. Unterdessen keimt am Hofe des Königs Merenptah das Böse, der königliche Berater Cha-em-hedjet, führt Düsteres im Schilde.
Im südlichen Teil des Landes nahe dem religiösen Zentrum "Ipet-Sut" (Karnak), im Arbeiterdorf Pa-Time (Deir el-Medine), herrscht derweil ein reges Miteinander. Die dort lebenden Handwerker mit samt ihren Familien, sind mit der Herstellung der Pharaonengräber am "Platz der Wahrheit" (Tal der Könige) betraut. Bald wird nichts mehr so sein wie es war, denn das "himmlische Treiben" (Erdbeben!) macht den Bewohnern bald darauf fast den Garaus.
Unter besonderen Umständen gelangte ausgerechnet Irinefer in dieses Dorf. Dort findet Irinefer zunächst sein Glück, wird aber in den Strudel der aufeinander folgenden Ereignissen unwillkürlich mit hineingezogen. Und auch in Pa-Time wütet das Dunkle; der Grabbauer Paneb ist zu allem fähig.
Währenddessen hat sich in der Residenzstadt des neuen Pharaos Sethos', nach einem Bruderkrieg, zwar die Lage wieder entspannt, da der Feind beseitigt und Maat ("Weltenordnung") wieder hergestellt waren, doch Bai kommt nicht zur Ruhe. In seiner Verbündeten, Königin Tausret, sieht er eine potentielle Gefahr für sein weiteres Streben nach Macht. Seine Söhne vermißt er offenbar kaum. Obschon Bai beide immer wieder sieht, rein zufällig oder geplant, war doch der Königssiegler Bai es, deren Schicksal er gewissermaßen lenkte. Werden Djehuti und Irinefer ihre Wahrheit je erfahren?
Dies und noch viel mehr erzählt Judith Mathes in einer Weise, dass man problemlos abtaucht in eine längst vergangene Zeit
Der Autorin gelingt meines Erachtens mit dieser fulminanten Geschichte eine spürbare Annäherung an eine längst vergangene und andersartige Kultur, die doch im Grunde kaum der unsrigen modernen, technisierten Lebenskultur ähnelt. Sehr deutlich wird in Mathes' Roman auch die Beziehung der alten Ägypter zu ihren vielgestaltigen Göttern; insbesondere wie ihr Dasein geprägt war von deren tiefen Glauben an jene. Der Leser spürt geradezu dieses Verwobensein menschlichen Wirkens auf Erden mit den unsichtbaren und göttlichen Kräften im "Himmel".
Basierend auf der gründlichen Recherche des Romanprojekts erschließt sich dem Leser eine wahrlich authentische historische Hintergrundkulisse, in welche fiktive Romanfiguren aber auch historische Personen eingewoben worden sind. Das Besondere daran ist auch, dass menschliche Schicksale aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten anzutreffen sind; vom höchsten Amt des Pharaos bis hin zur einfachen Dienerin.
Davon abgesehen, dass die Hintergrundkulisse historisch genau wiedergegeben ist (unter Berücksichtigung von Lehrmeinungen) wählt die Autorin einen Sprachstil, quasi frei von Fremdwörtern, dafür hier und da bestückt mit altägyptischen Ausdrücken. Sowie die Autorin für die altägyptische Sprache typische Ausdrucksweisen wählt, so z.B. schreibt sie im Roman nicht einfach "traurig" sondern "mit dem Kopf auf den Knien" (was soviel wie traurig heißt) oder sie wählt für eine 7-Tage-Woche, nicht den Begriff "eine Woche" sondern "Zehntage" (was im Altägyptischen sozusagen einer vollen Woche entspricht, allerdings mit 10 Tagen). Ganz erfrischend und noch lebendiger wirken die Gespräche auch, wenn die Autorin Zitate, bzw. Sprichwörtlichkeiten, einfügt.
Einzelne Szenerien sieht der Leser durch die plastische Sprache derart lebendig vor dem geistigen Auge, dass man nicht umhin kommt die Atmosphäre zu erspüren. Und überhaupt liegt dem ganzen Roman ein unvergleichlich guter sprachlicher Stil zu eigen. Selten laß ich Sätze bloß wegen der hervorragenden Wortwahl gleich zweimal, als Beispiel, zitiert: "Riesige Geröllblöcke erhoben drohend ihre schwarzschattigen Häupter, dunkel dehnten sich enge Schluchten, in deren Abgründe sich kein Mondstrahl vortastete."
Ein sehr intensives Lesevergnügen. Noch nach Auslesen des Buches schwingt die altägyptische Atmosphäre, die der Inhalt excellent versucht dem Leser so authentisch als möglich zu vermitteln, nach. Dieser Roman läßt für anspruchsvolle Leser quasi keine Wünsche offen.
Summa Summarum: Spannend, bewegend, emotional und trotz enormen Umfangs eher kurzweilig. Ob Laie oder Ägyptenkenner, jeder profitiert auf seine Weise. Insbesondere Ägyptenfans werden meines Erachtens in den Bann des Alten Ägyptens gezogen. Es ist einfach toll einen gut recherchierten Roman hinsichtlich Historie zu lesen, in dem wahre aber auch fiktive Begebenheiten sowie Personen spielen, weil damit das Alte Ägypten für einen noch greifbarer wird.
»Tage des Ra« ist zudem zu einem außerordentlich günstigen Preis im Handel zu haben.
(© Mein-Altaegypten.de, im August 2006, Rezensentin Anja Semling)
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